Bestsellerautor & Strukturgeber
Featuritis vs. Usability
In dem Artikel „Consumer Confusion“ habe ich beschrieben, wie sich die Vielfalt an Produkten und Dienstleistungen in den letzten Jahrzehnten verändert hat. Doch wie genau kommt die Überforderung der Konsumenten zustande? Warum führen immer mehr Features nicht automatisch zu glücklicheren Kunden? Gehen wir dem Featuritis-Phänomen mal auf den Grund.
Die „Featuritis“: Der Feind der Usability
Nirgends zeigt sich das „Feature-Wettrüsten“ so markant wie bei der Karriere des Telefons zum Schweizer Taschenmesser des 21. Jahrhunderts. Ich erinnere mich noch gut an das „Fernsprechgerät“ meiner Großeltern. Sie waren als Lehrerpaar in der DDR privilegiert und einige der wenigen, die überhaupt eins besaßen. Es hatte genau zwei Bedienelemente: Hob man den Hörer ab, hieß das „bereit zum Wählen“, legte man den Hörer wieder auf, war die Leitung wieder frei. Eigentlich ein Design-Geniestreich. Das zweite Bedienelement war die Wählscheibe. Etwas umständlich, aber jede Oma hat das verstanden. 1994 kam unser fortschrittliches Siemens „Gigaset“ mit Funkhörer. Ein Befreiungsschlag! Nun konnte ich mich als Pubertierender mit dem Telefon auf den Dachboden zurückziehen. Mein erstes Handy kam dann mit 17. Es war ein Siemens. Auf dem immerhin 4,5 cm großen Monochromdisplay prangte ein pixeliger Smiley als Hintergrundbild. Gott habe es selig!
Heute sind „normale“ Handys kleine Allrounder, mit denen man alles machen kann: simsen, organisieren, interneten, notieren, fotografieren, mmsen, wecken, Musik abspielen, diktiergeräten, navigieren, spielen und ach ja – telefonieren. Bald wird ein Großteil der Menschen mit dem Handy beim Supermarkt bezahlen und die Sehenswürdigkeiten in der Stadt von der netten Dame aus der App erklärt bekommen. Ich warte nur noch darauf, dass ich mit meinem iPhone endlich auch meine Frühstückseier braten kann.
Was wie eine wünschenswerte Evolution klingt, hat auch entscheidende Nachteile: Mit jeder neuen Funktion sinkt tendenziell die Handhabbarkeit („Usability“). Für jedes Feature muss ja auch eine Taste bzw. eine Menüfunktion oder gar neue Menüebenen eingeführt werden. Das muss überhaupt erstmal vom Konsumenten verstanden werden. Und kostet Zeit, Energie und Nerven.
Wissenschaftler nennen mein Phänomen „Feature Fatigue“ und beschreiben damit die Müdigkeit und Unlust, sich mit den ganzen Details herumzuschlagen. Ich finde den Begriff Featuritis noch passender.
Die Featuritis-Kurve der Verdammnis
Ich will nicht (nur) gegen zusätzliche Funktionen wettern. Mehr ist tatsächlich besser, anfangs jedenfalls. Du siehst das in der Grafik: Ein Produkt wird eingeführt, die Kunden mögen es. Aber irgendwie kann es wenig. Dann kommen neue Features hinzu, die ganz nützlich sind. Ein Messer auf Reisen ist gut, ein Schweizer Taschenmesser besser. Nagelfeile, Schere, Zahnstocher. Praktisch. Ein Bieröffner? Her damit! Der Nutzwert des Taschenmessers steigt. Doch ab dem siebten oder achten Feature wird das Messer größer, schwerer und man verwechselt die Klingen leichter. Wenn du nun noch weitere Funktionen addierst, sinkt der Nutzwert des Messers: Featuritis hat sich eingeschlichen.
Weil die Diagramm-Kurve nach rechts eher langsam abflacht und es eine gewisse Zahl an High-End-Usern gibt, die Komplexität schätzen, merkt man oft nicht, wann es zu viel wird. Zunächst versuchen Kunden vielleicht, diesen Mangel zu kompensieren, indem sie sich dem Studium der Bedienungsanleitung widmen oder Freunde fragen. Zudem gibt es einige Technikfüchse, die dir begeisterte Zuschriften senden oder Anregungen für weitere Features schicken. Doch zunehmend wird ein Großteil von Basiskunden frustriert und der Markt öffnet sich für einfachere Produkte, die nur die grundlegenden Bedürfnisse günstiger, einfacher oder besser befriedigen.
Wichtig hierbei ist, die Hauptzielgruppe im Blick zu behalten: Sprichst du den Massenmarkt an und haben viele Laien im Visier? Gibt es dennoch genügend Experten? Vielleicht kannst du zwei Versionen des Produktes, der Software oder der Dienstleistung anbieten – die Anfänger wie auch Experten befriedigen. In jedem Fall solltest du die folgenden Feature-Fallen im Blick behalten…
Die 6 häufigsten Feature-Fallen
Das Feature-Wettrüsten hat also auch seine Schattenseiten. Allerdings wäre es nicht so weit gekommen, wenn die Featuritis leicht zu erkennen wäre. Deshalb habe ich im Folgenden die 6 Feature Fallen für dich zusammengestellt, anhand derer du dein Angebot überprüfen können.
Feature Falle Nr. 1: zu viele Features
Gelöste Probleme, die keiner hatte. Wozu kann ich an meiner Fahrradlampe acht Blinkstufen einstellen – und muss alle durchklicken, bis es wieder aus ist?
Oder wie wäre es mit Schuhen mit eingebautem Navigationsgerät? Solche Treter gibt es wirklich: Der britische Designer Dominc Wilcox hat einen GPS-Sensor in einem ansonsten normal aussehenden Schuh eingebaut. Man kann über ein USB-Kabel sein Reiseziel in den Treter einspeisen und dann zeigen LEDs an der Zehenspitze die richtige Richtung an. Ich stelle mir vor, wie einer nur noch auf seine Schuhe glotzend durch die Gegend läuft, bis er die nächste Laterne trifft. Hoffentlich hat der Schuh auch die Position der nächsten Apotheke gespeichert.
LG Electronics verkauft einen Kühlschrank mit Fernseher in der Tür. Den Grund dafür liefert die Webseite unter der Frage: „Warum einen Fernseher in die Kühlschranktür einbauen?“ Die Antwort: „Warum nicht?“ Aha. Da hat jemand also richtig gründlich nachgedacht.
Zugegeben – diese Beispiele sind nicht wirklich schädigend. Diese Produkte sind meist nur Gimmicks, bloße Spielereien. Ein paar Fans kaufen sie, weil sie Spaß daran haben, der Markterfolg hält sich aber in Grenzen. Damit stören diese Produkte auch kaum in der Masse.
Feature Falle Nr. 2: Sinkende Usability
Die zweite Kategorie wird schon unangenehmer, denn einige Features senken die Benutzbarkeit der Produkte deutlich: So bietet der „iDrive“ Bordcomputer des BMW 745 mehr als 700 Features und ist so kompliziert, dass in Amerika Gebrauchsanleitungen für das Auto ins Handschuhfach gelegt werden mussten, weil dort die Autos oft von Restauranthilfskräften eingeparkt werden und diese nicht mit dem Auto zurechtkamen. Eine andere Quelle berichtet, dass BMW seit Einbau des Modells einen Umsatzrückgang von 10 Prozent verzeichnete.
Feature Falle Nr. 3: Zu viele Zusatzstoffe
Selbst bei einfachen Produkten können zusätzliche Features verärgern. Ich nutzte ein Shampoo von der nur in Apotheken erhältlichen Marke Eucerin. Es ist perfekt für trockene Kopfhaut, auch wenn es mit 8 Euro schon recht teuer war. Doch plötzlich gab es das Produkt nur noch mit einem neuen, zusätzlichen Inhaltsstoff als Anti-Schuppen-Shampoo – für 1,50 Euro mehr. Ich hasse Anti-Schuppen-Shampoos, weil ich davon Schuppen bekomme. Ich erhalte also aus meiner Sicht ein unpassenderes Produkt und muss auch noch dafür mehr bezahlen?! Mich macht das nicht arm, ärgerlich ist es trotzdem.
Feature Falle Nr. 4: Unvollendete Features
Ein weiteres Featurieties-Symptom ist, dass viele Features störanfälliger oder nicht gründlich zu Ende gedacht sind. So kaufte ich mir einen Lautsprecher, den man kabellos über das WLAN-Netz ansteuern kann. Voller Vorfreude packte ich das Modell der Marke Bowers & Wilkens aus, doch bei der Installation gab es Probleme. Ich las nach: Man bräuchte ein altmodisches LAN-Kabel, um die Software upzudaten. Das war nicht mitgeliefert. Wir hatten den 25. Dezember und es handelte sich um mein Weihnachtsgeschenk. Und es war nicht aktivierbar! Mein Heimatort hat keinen Elektroladen, im Netz bestellen kam nicht infrage, ich wollte kurz darauf Ski fahren und wäre nicht zuhause gewesen. Also schickte ich das Ding zurück. 500 Euro Umsatz verloren, einen verärgerten Konsumenten gewonnen, der nun all seinen Freunden (und Lesern) enttäuscht davon berichtet. Keine gute Bilanz, bedenkt man, dass ein LAN-Kabel schätzungsweise 10 Cent in der Herstellung kostet.
Feature Falle Nr. 5: Unvorhersehbare Folgen
Apple ist bekannt dafür, dass es Produkte zu Ende denkt und konsequent entsprechend designt. Nichtsdestotrotz ist den Designern auch beim iPhone ein Ärgernis durch die Lappen gegangen. Das Gerät schaltet nämlich immer auf stumm, wenn man mit dem Ohr beim Telefonieren auf die Touchscreen-Taste kommt. Und das tut es ziemlich oft. Mein Ohr ist besonders geschickt, denn es macht auch Fotos.
Mercedes bot ein Feature an, das die Sitzposition des Fahrers im Autoschlüssel speicherte. Wenn die Fahrertür auf Knopfdruck geöffnet wurde, fuhr der Sitz automatisch in die neue Position. Die Idee ist gut, die Praxis nervig. Stell dir ein Paar vor: Er 1,90 m, sie 1,70. Er morgens gehetzt, findet seinen Schlüssel nicht, nimmt ihren. Öffnet die Tür, der Sitz fährt automatisch nach vorn, denn ihre Sitzposition ist gespeichert. Da alles elektronisch läuft, kann er das nicht gleich korrigieren. Er fährt los wie ein Elefant in einem Mini: Die Knie an den Ohren angelegt, eingezwängt, entwürdigt.
Feature Falle Nr. 6: Komplexitätskosten mit Bumerang
Ein Smartphonebenutzer klagte im Januar 2013 gegen Nokia, weil nach einem Update einige Features nicht mehr vorhanden waren. Es handelte sich um ein älteres Modell und der angeschlagene Konzern hatte scheinbar keine Ressourcen mehr, die älteren Systeme zu pflegen. Auch hier schlagen sich die Komplexitätskosten nicht nur mental im Sinne der Bedienbarkeit, sondern auch monetär deutlich nieder.
Featuritis-Fazit: Die Gefahren zu vieler Features
Diese Liste ist natürlich subjektiv, verdeutlicht aber, welche Gefahren in zu vielen Features liegen. Auch wenn die Features an sich nicht teuer in der Entwicklung oder Produktion sind, sie müssen irgendwie beachtet, verstanden und bedient werden. In einem unabhängigen Usability-Test dauerte es z. B. zwölf statt sechs Minuten, einen bestimmten Klingelton für das Nokia 6620 herunterzuladen im Vergleich zu einem einfacher gehaltenen Samsung-Modell. Sechs Minuten zusätzliche Komplexitätszeit!
Mit jedem Feature summieren sich die kleinen Sekunden zu zusätzlichen Gedanken, die man benötigt, um das mit dem Gerät zu tun, was man möchte. Die Featuritis hat also unmittelbare Auswirkungen auf das Leben jedes Konsumenten.
Wie kannst du der Feature-Falle entgehen?
Wurde bei dir der Befund „Featuritis“ gestellt? Stehst du vor dem Problem zu vieler Features oder unklarer Produktinformationen? Hast du das Gefühl, dass du durch eine Straffung der Produkteigenschaften deine Kunden bei der Wahl unterstützen kannst?
In meiner Doktorarbeit habe ich die Ursachen für Überforderung von Konsumenten untersucht. Darauf baut mein Marketing Ratgeber Customer Navigation auf: in den Kapiteln 4–6 erfährst du, wie du das optimale Angebot erreichst.
Kategorie: Entscheidungs-Psychologie
Artikel von Martin Krengel
am 03.06.2014
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